J. Monika Walther
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Was mache ich heute?

November 2009

Che farò senza Euridice, che farò senza il mio ben', dove andrò...

Wenn wir durch ein Museum des eigenen Lebens gingen, wenn wir je im Paradies geliebt hätten und beim Aufwachen neben der Schlange mehr fänden als einen abgekauten Apfel, vielleicht eine Anemone, wenn wir einen Beweis der eigenen Existenz in den Augen eines anderen finden, ein Lächeln und Wohlwollen, eine Freude gesehen und geatmet zu werden, wenn ein Mensch ohne Vorbehalt lieben darf und kann, wenn –

Im Museum des Lebens wird es eine Telefonzelle geben, mit großen schweren und rabenschwarzen Kopfhörern und wenn der oder die eine Nummer wählen, hören sie noch einmal Ansagen wie: The number is not available oder Der gewünschte Teilnehmer ist nicht erreichbar, versuchen Sie es später noch einmal. Und der oder die können noch einmal rätseln, warum sie diese Ansage erhalten. Vielleicht wissen sie es auch und wollen es mit allen gemischten und wahren Gefühlen und auch in der zehnten Wiederholung nicht glauben, dass da ein Mensch verschwunden ist, auf Zeit oder für immer. Sie glauben es nicht und wissen doch, dass sie sich auf die Verabschiedung oder einen Abschied einrichten müssen.

Eine Freundin machte sich im monatelangen Sterben die Arbeit in Briefen ihr Sterben und ihre „Unerreichbarkeit“ zu erklären, dass sie alle Kraft für den Tod brauchte; eine andere warf ihr Handy nach dem Examen in einen Gully und fuhr nach Kolumbien. Und manche verschwinden, vielleicht um zu demütigen oder weil es der einfachste Weg ist, jemanden zu zeigen, wo sein Platz in der Hierarchie der Menschenbeisser ist oder um zu schauen, ob der andere dann doch noch da ist. Vielleicht sind manche auch achtlos mit den Menschen. Die Ansage The number is not available muss der Teufel erfunden haben. Nach den Bombenangriffen im Zweiten Weltkrieg schrieben die Flüchtlinge und Überlebenden an die Hauswände mit Kreide, oder sie ritzten mit Steinen: Gehen nach Plauen zu F. – Fam. Meyer. Oder: Max verschüttet, Willy vermisst, gehe nach Berlin zu P. Sonja. Sie wollten gesucht und gefunden werden.

Im Museum des Lebens muss es die Lieder der Patti Smith geben: One road is paved in gold, one road is just a road. Die berührbare Patty Smith: Because the night, die unzerstörbare Hymne an die Liebe. Die gilt.

Und es müssen all die abgeschlagenen Köpfe ausgestellt sein: In einigen Gegenden der Welt orientieren sich die Hinrichtungen an der Nachfrage von Organempfängern. Die biblische Judith hat noch Arbeit vor sich. Das Gute und das Böse, und dem Bösen den Kopf ab oder per Fernrakete liquidieren; wenn es so einfach wäre, aber durch alle Jahrhunderte glauben die Menschen, das Böse sei in einer Fratze über dem Kircheneingang dingfest zu machen, fern zu halten und Maria ist bei den Guten. Wenn es so einfach wäre. Zeigen die Augen uns die Dinge, wie sie sind: „Wenn alle Menschen statt der Augen grüne Gläser hätten, so würden sie urteilen müssen, die Gegenstände, welche sie dadurch erblicken, sind grün.“ Kleist. Wenn alle Menschen logisch denken könnten – wenn alle ihr Lebensmuseum kennen würden, über wahre Bestandslisten verfügten, wenn jeder über sich selbst einen Überblick hätte, wenn der Geiz mit Gefühlen nicht so groß wäre, wenn jeder ein Paradies in sich hätte, wenn mit Ruhe und Achtung, Neugier und Mögen durch die Lebensmuseen der anderen gegangen würde, wenn das Nachtragen, Aufrechnen, Abrechnen, Vorwerfen, Unterstellen eine Ende hätte, wenn – vielleicht liegt dann Böhmen endlich am Meer und eine Anemone wird verschenkt. Wenn – aber, wenn - ein Mensch in Ruhe durch sein Lebensmuseum geht und um das Gewicht der eigenen Seele weiß. Dann – ist das paradiesisch.

Und was wünsche ich mir? Einen Gang auf der Grenze des Bewusstseins.

Und was tue ich heute? Zwei Bücher werden dieser Tage erscheinen: Das Gewicht der Seele und Goldbroiler – ich bedanke mich bei den Verlagen Mentis und Geest Verlag, bei den engagierten, wenn auch ganz unterschiedlichen Verlegern. Ich möchte mich bedanken bei Iris Nölle-Hornkamp für ihre fast einjährige liebevolle Editionsarbeit und Geduld, bei den Freunden, die Recherchen unterstützten, berieten, die Manuskripte und Satzfahnen immer wieder lasen, auch auf der Suche nach Fehlern. Meinen Dank auch an Elisabeth Roters-Ullrich, die nun mit all ihrem Engagement nach Veranstaltungsmöglichkeiten sucht. Und an die Fotografin Barbara Dietl, ihre Bilder waren und sind „Auslöser“ für Erzählungen. Es ist ein Glück für mich, dass es immer wieder Zusammenarbeiten gegeben hat. Ein Einlassen und Übersetzen.

Jay