J. Monika Walther

Wir werden wie die Träumenden sein

Eine Landsuche in Deutschland

Geht wieder eine Sekunde, eine runde Sekunde und ich will mich was lehren. Keine Fahnen auf Halbmast, keine Eifersucht auf den einzigen ansehnlichen Gott, das Auge, in dessen Blick wir leben, nicht mehr jeden Tag ein Schweigen, das die alten Fehler übertrifft.

Ich öffne die Schränke, die Zeit im Ohr, die sibirische Himmelfahrt reise ich, das quietschende Drehen der Mühlenflügel vom Feld höre ich, die Stärke der Pferde bewundere ich und die ungeküßten Menschen zähle ich mit dünnen Bleistiftstrichen, voller Hoffnung für mich.

Ein Kaddisch spreche ich ungeübt in Tarnòw und Leipzig, lasse die Seelen der Verwandten ruhen, lege für alle einen glatten runden Stein, warm gerieben, weiß nicht, was ich da tue, sage mir, wenn ich keinen habe, den ich liebe, kann ich auch keinen verlieren, aber lieber will ich einen verlieren, als nicht zu lieben. Meine Lust, mein Verlangen soll mich treiben und die Angst meine Seele nicht berühren. Wohl soll ich mich bei dir fühlen, wenn ich weiß, wo du bist; wo ich bin, such ich dich. Aber Lebensfurcht macht mich fühllos.

Morgens nehme ich wahr, was ich versäumt habe und schreibe die vergessene Schrift, abends renne ich vom Glück überhäuft davon. Die Welt ist da, die Wörter wahr und sogar wahrhaftig und ich rede keine letzten Sätze und nicht um den heißen Katzenbrei herum. Heute nicht.

Eine runde Sekunde und ich stelle Fragen, suche mir Antworten und beginne links außen am Strand die feinen Sandkörner zu zählen. Eins, zwei, drei, vier, fünf...

"Ich habe Lust, glücklich zu sein und bin bereit, Tag für Tag um mein Portiönchen Leben mit dumpfen Eigensinn zu feilschen." Das schrieb Rosa Luxemburg an ihren Geliebten, der analysierte, paralysierte und Baupläne zeichnete. Nicht für Rosa ein Haus, für alle Menschen ein Dach. Ach Jogisches. Hast keine Nachtigall gehört.

Auf die Länge der Mißdeutungen passen die Betten nicht, der Augenblick verzettelt, verkleinert, ohne warmes Herz und weiche Haut, aber Geschichten gibt es immer zu erzählen, deine, meine und die vom kleinen Moses ohne Brille, die von Herrn Blumenthal und Misses Bellay aus Leipzig, verstorben in Liverpool und die von Frau Anna Fischmann, die von der Idastraße in Leipzig, dem Haus Nummer Einundvierzig und vom deutschen Burmesen Karl Richard Jacobson, die vom Pferd des armen und kranken Handlungsreisenden Friedrich Wilhelm Wohlrath, das in der Szerokastraße zu Krakau um sein Überleben und zum Vergnügen aller auf den Tischen tanzte und die von der ungeteilten Erbengemeinschaft der Idastraße 41, bestehend aus zwei Toten, einer unauffindbar Emigrierten und einer Lebenden.

Und die von Egon Hurgarowitsch, dem Bäcker und Erfinder der aus rotem Marzipan geformten wohlklingenden Spieluhren, dessen Frau ihr Leben lang Sonntag für Sonntag mit ihm haderte, wenn er die Töne mit rosig geblähten Wangen und einer Picoloflöte aus Schokolade in die Spieluhren blies. Sie verließ ihn mit all ihren Hoffnungen auf ein Leben ohne Marzipan und kam weinend wieder, kein neues Glück hatte sich gefunden, nur ein Liebhaber für wenige Nächte, und Herr Hurgarowitsch formte für sie das größte goldene Osterei und wieder schimpfte sie ihn aus, warf ihm vor, daß er hinter ihrem Rücken lebte, wann immer sie sich umdrehte, Heimlichkeiten dächte, so suchte er sich eine junge Geliebte am anderen Ende der Stadt, aber der Weg zu seiner Bäckerei war zu weit, der Atem für seine Schokoaldenflöte geriet ihm zu kurz. Also schlief er wieder in seinem Hause und ließ sich mit einer Flut von salzsäurigenWorten beschimpfen; heimlich dachte er, wenn er sein Gesicht abwandte, gerne dachte er heimlich. Und er träumte sich seine Frau, eine, die Spieluhren liebte, Zuckermelassen, Marzipanfarben und Flöte blasen konnte, Marzipanflöte.

In Theresienstadt spielte Egon Hurgarowitch auf der Flöte, bis er verhungert war. Und seine Frau haderte noch immer mit ihm und tauschte die Flöte gegen ein Stück Brot. So spielte ein Fremder das letzte Lied für Egon Hurgarowitsch, dann aß er die Schokoladenflöte auf und seine Frau weinte bitterlich, über sich weinte sie und ihre Verlassenheit, denn sie vermißte ihren Mann, weil sie sich selbst vermißte.

Viele Geschichten gibt es, muß nur ein Mensch zuhören und aufschreiben, auch diese: Auf einer Wiese, die bis in den Himmel sich erstreckte, stand eine schwarze Stute mit einem Schild um den Hals gehängt. Darauf war zu lesen: "Ich bin Frau Weiss." Und in einer runden Sekunde des Jahres 1938 geschah es, daß in der Szerokastraße in Krakau ein buntgeschecktes Pferd auf dem Tisch des größten Gasthauses tanzte. Es trommelte mit seinen Hinterhufen den besten Swing in Galizien. Der Wirt versorgte das Pferd reichlich mit Heu und sauber geschabten Mohrrüben an jedem Schabbesabend. Und doch lief ihm das Pferd davon und tanzte in Lemberg, Breslau und Ratibor. Zum Vergnügen aller jungen Mädchen und aller gelockten Gelehrten. Sie klatschten und lächelten und das Pferd trug eine weiße Decke und fraß frischen Klee. Am Schabbes verschlang es heimlich schlesische Weißwürste und zu Weihnachten schmückte es sich mit Lametta.

Aber Weihnachten 1940 klatschten keine jungen Mädchen mehr und lächelten keine schwarz gekleideten Gelehrten. Es waren Soldaten, die das Pferd sattelten und auf ihm nach Osten ritten. Verborgen im kalten Schnee fraßen sie das Pferd auf. Und die Geschichte aus dem Talmud von den zwei Engeln, sie geht so: Zwei Engel begleiten den Menschen am Freitagabend auf seinem Weg von der Synagoge nach Hause, ein guter und ein böser Engel. Wenn der Mensch sieht, daß zu Hause die Lichter brennen, der Tisch gedeckt und das Bett bereitet ist, sagt der gute Engel Amen.

Wenn der Mensch aber nichts von alledem vorfindet, sagt der böse Engel: "Möge es am nächsten Schabbat genauso aussehen." Und dem guten Engel bleibt nichts anderes übrig, als sein Amen hinzuzufügen, denn Amen zu sagen, das ist seine Aufgabe. Im Guten wie im Schlechten.

Mein guter Engel muß traurig sein über die vielen Male, da er zur Verwünschung des bösen Engels Amen sagen mußte. Mein guter Engel muß traurig sein über die vielen, nicht zu zählenden Male, da ich ihn und mich verleugnete. Von keiner Herkunft wollte ich sein und von keiner Zukunft, keine, die alle Fremdwörter verkehrt herum weiß und keine, die die Gläser zählt, die an ihrem Kopf vorbei geflogen sind. Ein Wort ist ein Wort ist ein Wort, eine Erinnerung, eine Geschichte, eine lebende und eine gestorbene zugleich. Ein Wort ist eine Scherbe und jeder muß sein Trinkgefäß selbst zusammensetzen. Die Wörter haben ihre Geschichten und die Geschichten ihren Himmel auf Erden; die einen Menschen nehmen wie ein Schwamm alles in sich auf, das Gute wie das Bittere, das Süße wie das Schlechte, die anderen lassen alles zum einen Ohr hinein und zum anderen hinaus, die Dritten merken sich die groben und starken Worte, die leisen bleiben ungehört; die Vierten verirren sich im Unklaren und lassen alle Klarheiten beiseite. Gibt es noch andere, die alle Töne sammeln, hören, ordnen und behutsam in Kopf und Herz mit ihnen umgehen, geduldig die eigene Schwermut verlachen?

Wie denke ich, wenn ich mich erinnere? Wie frage ich, wenn ich weiß, daß ich keine Antworten bekomme. Wie antworte ich mir, wenn ich nicht einmal ahne, was ich wissen will? Wie lebe ich, ohne Fahrkarten und Platzreservierungen? Wie lange brauche ich, um Platz zu nehmen, Raum abzuschreiten? Wie erkläre ich mir das Böse, das geschieht und wie die anderen Menschen? Die Dinge und das Leben sind nicht mehr geheimnisvoll, alles ist erklärbar und feststellbar. Das Böse gibt es nicht. Das Böse sind Mechanismen, Eitelkeiten, Wut, Wichtigtuereien. Ich bin wer, zeigt da einer dem anderen und schlägt ihn, tritt mit Stiefeln, verhaftet, deportiert oder läßt ermorden. Ich bin niemand, läßt einer den anderen leiden, mit allem Haß seines Körpers, wegen eines versehentlich eingenommenen Platzes, eines anderen Ganges wegen, erbarmungsloser Haß, um Leben zu vereiteln, Gedanken zu verhindern, Großzügigkeiten, Gesten und Gefühle.

Sehnsüchtigkeit ist es, Verborgenheit zu suchen oder die rechte Wange hinzuhalten, wenn die linke geschlagen wird. Sie schlagen auch die rechte Wange. "Es ist vergeblich, für sie zu leben und für sie zu sterben. Sie sagen: er ist ein Jude." Das schreibt 1921 Jakob Wassermann, ein heimatloser deutscher Inländer.

Bleibt also Weglaufen und Zurückkommen, Emigrieren und bleiben: Am schönsten ist es unterwegs. Das ist dann die jüdische Pointe. Was die Juden zu ihrer Heimat brauchten, hatten sie lange Zeiten immer mit sich, wenn nötig im Fluchtgepäck. Ob in Ratibor, Breslau, Leipzig, Berlin oder in Liverpool, Los Angelas und Pasadena, die Kerzen zum Schabbesbeginn werden immer am Freitag, spätnachmittags, entzündet. Es gibt sehr kleine Leuchter und sehr kleine Kerzen. Der Gedanke, daß Heimat auch Land und unverrückbarer Besitz bedeuten kann, kam erst in der zweiten Hälfte des vorigen Jahrhunderts auf. Das portable Vaterland bestand aus Lebensart, Traditionen und religiösen Überlieferungen.

Fünfhundert deutsche Werbeagenturen suchten einen Slogan für die Kampagne deutscher Zeitungsverleger "Miteinander reden": Mit Jürgen, mit Luden, mit Türken und Juden. Das war der preisgekrönte Spruch. Aber mit welchem Jürgen rede ich Jude. In meiner Familie gibt es keinen Jürgen, keinen Türken, wohl auch keinen Luden und statt eines Türken einen Hamburger Burmesen, auf dem Emigrationsweg in Burma geboren. Türkische Juden, namens Jürgen, die im Beruf als Luden arbeiten, könnten als multipel ausgegrenzte Menschen mit sich selbst und miteinander reden.

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